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R e n a i s s a n c e   m o d e r n

Diese Seite beschreibt die Renaissancequerflöte in ihren historischen Aspekten, als auch ihr Potential für die Neue Musik & Improvisation, und möchte Optionen zur Spielart aufzeigen, die einerseits historisch gesehen möglich, andererseits in Reflexion zum modernen Instrumentarium und zeitgenössischen Musik relevant sein können. Zur Improvisation sei Stephen Preston´s PhD „Bird song as a basis for new techniques and improvisational practice“ empfohlen, der mit Griffpatterns arbeitet.

 

Allgemeines: Klang – Stimmtonhöhe – Ambitus – Instrumententypen

Die Renaissancequerflöte (fiffara, fleuste dallemant, Zwerchpfeife, traverse, flute) ist ein obertonreiches, zylindrisches Instrument. Von den erhaltenen Instrumenten ist die Stimmtonhöhe der meisten Originale bei 408Hz (tiefer Chorton), eine größere Gruppe bei 430Hz, und wenige Instrumente bei 362Hz, 380Hz, 460Hz oder 480Hz, die meisten der heutigen Instrumente werden in 408Hz, 415Hz oder 440Hz gebaut. Flöten in tiefem Stimmton klingen wärmer, voller, und sind oft einfacher im Consort zu intonieren. Bei Agricola beträgt der Ambitus der Consortflöten drei Oktaven im Vergleich zu den zwei bis zweieinhalb Oktaven anderer Autoren der Zeit. Renaissanceflöten erklingen traditionellerweise eine Oktave höher als notiert, und werden selbst im broken consort als 4´- Instrument benutzt. Die Tenorflöten umfassen klingend d´- a³ (d4), die Bassflöten g – g², die kleinen Flöten g´- c4 bzw. a´- d4. Die Flöte ist nicht nur ein mythologisches, pastorales Instrument, sondern blickt auch auf eine lange militärische Tradition zurück. Der Klang der militärischen fiffre wird als schrill und „ear-piercing“ (Shakespeare) charakterisiert, der des begleitenden Trommlers als „Lärm wie Donner“ (Arbeau). Militärflöten waren bei Praetorius beispielsweise kleine Flöten in g´ (im Unterschied zu den kleinen Consortflöten in a´) wobei im ikonografischem Material des 16. Jahrhunderts kein Unterschied zwischen den Flöten der Landsknechte und den langen Consortflöten erkennbar ist, als auch die kleinen g-Flöten in van Eycks Œuvre beispielsweise einem lieblichen Klang und Modus zuzuordnen sind.

 

Untraditionelle Haltungen

In fast allen mittelalterlichen Abbildungen wird die Flöte, wie bei klassischen nordindischen Bansuri-Spielern, nach links gehalten. Auch in Renaissanceabbildungen halten etliche Flötenspieler das Instrument in die für moderne Spieler ungewohnte Richtung. Die Renaissanceflöte kann tatsächlich, was die Unterschneidung des Mundlochs beispielsweise der Instrumente der Accademia Filarmonica in Verona erlaubt, sowohl nach rechts als auch nach links gehalten werden. Für die Haltung der Handgelenke kann man sowohl die Dorsalextension, wie sie in der klassischen westlichen Flötenausbildung vorausgesetzt wird, als auch die Palmarflexion, wie sie beispielsweise in der klassischen nordindischen Musik verwendet wird, in ikonografischen Dokumenten der Zeit finden. Ein Vorteil der Palmarflexion in beiden Handgelenken ist die Möglichkeit, die Finger über den Tonlöchern zu rollen, und beispielsweise glissandi zu erleichtern. Die Palmarflexion verändert außerdem den Einblaswinkel, sowie den Druck von Flöte gegen Lippe/Kinn, und führt so zu einem anderen Klang. Dabei stützen beide abgespreizte Daumen das Instrument von vorne außen, und nicht gegenüber den übrigen Fingern liegend. Bei der Dorsalextension ikonografisch interessant ist der Untergriff des kleinen Fingers, wie er in einigen Dokumenten sogar bei beiden kleinen Fingern auftritt, und auf diese Art das Instrument hält.

 

Vieltönigkeit – mikrotonale Skala

Systeme mit mehr als 12 Tonhöhen pro Oktave existierten auch im 16. und 17.Jahrhundert, wie man nicht zuletzt an den Cembali mit geteilten Tasten, die diatonische, chromatische und enharmonische Tonschritte ermöglichen, erleben kann. Da Renaissanceflöten im Prinzip mitteltönige Instrumente sind, ist die Abweichung von der gleichschwebenden Stimmung im Instrument angelegt. Terzen wie d – f#, d – f, g – h, g – b, sind naturgemäß relativ rein, weichen also um ca. 14 Cent von der gleichstufigen Stimmung ab, können aber auch, sowohl vom Ansatz, der Luftführung, wie von alternativen Griffen her, an andere Stimmungen angepasst werden. Jedes historische Instrument ist verschieden, sowie auch heutige Kopien verschiedener Bauer unterschiedlich konstruiert sind. Der Spieler mag ggf. die mikrotonalen Griffvorschläge für sein Instrument modifizieren.

 

d´ 123456

e´12345

f´12346 ↑f´ 12346 f#´ 1234 ↑f#´ 12356

g´123 oder 1236 ↓g#´ 12456 g#´ 124 oder 1236 ↑g#´ 1256

a´12 oder 126 ↓b´13456 b´1356 oder 136 ↑b´13

h´1 oder 16 ↓c´´ 2346 oder 2356

c² 3456 oder 26 oder 2 oder 236  ↑c² 34 c#² 6

d² 23456 oder 123456 es² 123456

e² 12345 ↑e² 12345

f² 12346 ↑f² 12346 f#² 1234 ↑f#² 12356

g² 1236 oder 123 ↓g#² 1246 g#² 124 oder 1236 ↑g#² 12

a² 12456 oder 123456 ↓b² 13 oder 123456 b² 13456 ↑b² 1

h² 1456 ↑h² 2

c³ 3456 ↑c³ 456 oder 6 c#³ 34 ↑c#³ 34

d³ 23456 ↑d³ 2356

es³ 1246 ↓e³ 126

e³ 125 ↓f³ 16

f³ 15 f#³ 13456 ↓g³ 135

g³ 3456 oder 123 ↑g³ 346

a³ 2345 ↓b³ 1256 oder 24

b³ 126

c4 356

d4 23456 („auss schnellst velocissimo“ Agricola 1529)

 

Artikulation

Um Sprache und Worte zu imitieren, empfiehlt Ganassi (1535) nicht nur die Zungenartikulation, sondern auch das Verhältnis des Atems und die Hilfe der Finger. Seine Artikulationsarten sind differenziert, und umfassen neben dem mäßigen tere/dere (mediocre), dem weichen lere (piacevole over piane), und dem harten und rauhen teke/dege (crudo e aspro), auch das dem tere zugeordnete kare bzw. gare. Arbeau ordnet té-té-té oder tere tere der flötistischen militärischen Performance zu (plus aigre & rude), und empfiehlt relé relé für den zivilen Gebrauch. Als schnellste Zungenart für die Flöte gibt Agricola die Flitterzunge an, tellellell. Kombinationen wie tere lere oder dere lere findet man bei dalla Casa und Francesco Rognoni, wobei weder ein le auf der finalis, noch ein le auf fusa-Ebene selten sind.

Tongue Ram, Flatterzunge, sowie Fingerperkussion sind wie auf der modernen Flöte möglich; sanfter, und bedeutend leiser. Der Tongue Ram erklingt eine kleine Septime tiefer als gegriffen, und ist möglich zwischen d´und c#².

 

Vibrato und Tremolo

Verschiedene Quellen (Agricola, Morsolino) als auch erhaltene historische Orgeln mit fiffara-Register legen nahe, dass Querflöten mit bebendem Klang, „zitterndem Odem“ (Agricola), gespielt wurden. Besonders im Flötenconsort wirkt das Atemvibrato besonders schön und fördert die Klangmischung. Für weitere Formen des Tremolos mit den Fingern gibt Ganassi für die Blockflötisten verschiedene Griffe an, sowohl für ein lebendiges Tremolo (la galanteria vivace e augumentata) als auch für ein sanftes (la galanteria suave over placabile), mit Intervallen zwischen einer diesis und einer Terz. Ganassis Griffe sind hier auf die Renaissanceflöte übertragen, als auch in den Intervallmöglichkeiten erheblich erweitert. 3) bedeutet trillernd mit 3, 5 die Halbdeckung von 5.

 

d´ - e´ 123456) oder d´- f´ 12345)6 (vivace) d´- f#´ 1234)56 oder d´ - e´ 123456) (suave) d´- g´ 1234)5)6

d´- g#´ 123)456 d´- a´ 12)3456 d´- b´ 12)3)456 d´- c² 192)3456 d´- c#² 1)2)3)456 d´- d³ 1)23456

e´- f#´ 1234)5 oder e´- g#´ 123)45 (vivace) e´- f´ 12345) oder 12345) (suave)

f´- g#´ 123)46 (vivace) f´-f#´ 1234)6 (suave)

f# - a#´ 12)34 (vivace) f#´- g#´ 123)4 (suave)

g´- b´ 12)3 oder g´- c´ 1)23 (vivace) g´- b´ 12)3 oder g´ - a´ 123) (suave)

a´- c´´1)2 (vivace) a´- b´ 12) (suave)

b´- c´´1)345 (vivace) b´- h´ 13)45 (suave)

h´- c#² 1) (vivace) h´- c² 2)345 (suave)

c#² - h´ 1) (vivace) c#² - c² 2)3) (suave)

d²- e² 123456) (vivace) d² - es² 12)3456 (suave)

e² - f#² 1234)5 (vivace) e² - f² 12345) oder 12345) (suave)

f² - g² 1234)6 (vivace) f² - f#² 12346) (suave)

g² - ↑a² 12)3 (vivace) g² - ↓a² 123) oder 1234) (sehr schwach) (suave)

a² - c³ 1)2)3456 (vivace) a² - b² 12)3456 (suave)

Klangfarbenbebung – Bisbigliando

f´ 12346) f#´ 12346) 1235)6) 12356) 1235)6

g´ 1235) 1236) 1235)6) 1234)56 (sehr schwach) g# 124)56 1245)6 12456) 124)5)6)

a´ 12 4) 125)6) b´13456)

h´ 13) 14)5)6 14)56 145)6

c² 3)456 34)5)6 2)  c#² 4)5)

d² 2)3456

f² 12346) f#² 12346) 12356)

g² 1235) g#² 124) 1246)

a² 124)56 123)456 b² 13456) 13)456

h² 145)6 1456)

c³ 5)-6)

d³ 234)56

 

Alternativ können ein oder mehrere Finger über offene Tonlöcher gleiten und eine rasante Tonwiederholung kreieren. Die Ähnlichkeit zur Flitterzunge ist groß. Preston assoziiert es mit den Lauten von Rotkehlchen.

 

Eine andere historische Form des Vibrierens besteht im Rollen des Flötenkorpus vom linken Daumen aus, sodass ein natürliches Glissando entsteht.

 

Glissando

Glissandi von bis zu einem Viertelton sind ohne Griffwechsel über den Ansatz möglich. Die klappenlose Agilität der Renaissanceflöte ermöglicht flüssige Griffglissandi bis zu den jeweiligen Registerwechseln c#²/d², c#³/d³ und f ³/f#³. Eine größere Leichtigkeit erhalten sie mit der Palmarflexion, in der die Finger zur Seite rollen können.

 

Mehrklänge – Multiphonics

b´- e² 12345

d² - a² - d³ - f#³ 123456

d³ - f#³ - a³ 123456

h² - d#³ - f#³ 12345

d#³ - a³ 12345

h² - d#³ 12345

e² - ↓h² 12345

f² - f#³ 12346

f#´- c³ - f#³ 1234

f#³ - ↑a³ 124 oder 1234

g´- ↑g² - d³ -  g³ 123

a#² - g³ 13

↓a² - ↑a³ 12456

↓a² - e³ 12

↓h² - f³ 1

c² - ↑h³ 2

c#² - c³ 4 (oder 3)

Klang und Luft

Für den Instrumentalisten galten die Sänger als unerreichbares Vorbild, und sie eiferten ihnen in der Variierung des Timbre, des Ausdrucks und der Sprache nach. Die perfekte Stimme wurde als süß und klar beschrieben; süß, um die Seele des Zuhörers zu berühren, klar, um die Ohren zu füllen. Was als Ideal des klaren luftgeräuscharmen Klanges in der europäischen Flötenwelt Tradition hatte, galt keineswegs für außereuropäische Kulturen. Die chinesische dizi beispielsweise hat ein Blättchen, was beim Spielen mitschwirrt, und Hineinmischungen von Luftnebengeräuschen sind wesentlicher Bestandteil des Shakuhachispiels. Um mit einem Vibrato den Wind zu imitieren, würden Shakuhachispieler den Kopf von links nach rechts schütteln; eine Technik, die den Klangentstehungspunkt verändert, Klangfarbe und Luftgeräusch modifiziert. Äquivalent dieser Technik in europäischer Tradition kann höchstens das Kinnvibrato sein, mit einer Bewegung des Unterkiefers (auf Sagittalebene, im großen Unterschied zur Transversalebene des japanischen Vibratos), mit dem Effekt eines stabileren Punktes der Klangentstehung und kaum Nebengeräuschen.

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aus: Agricola: Musica instrumentalis deudsch (1529)

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aus: Lucas Cranach d.Ä., Putto (1502)

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Ausschnitt aus Giorgio Teddes "Austro" (1991) für Altblockflöte solo, mit mikrotonalen Doppeltrillern, glissandi und Zirkuläratmung. Eine Quarte nach unten transponiert sind die Griffe nahezu identisch mit denen der Renaissanceflöte. Shakuhachi-Anklänge aus der Blockflötenliteratur sind mit Renaissance-Querflöten bestens realisierbar.

Flitterzunge, aus: Marenzio/Bassano: Dissi a l´amata mia
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Semibrevis-Tremolo, aus: Francesco Rognoni: Selva di varii passaggi (1620)

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